Kapitel 5: Rückbau und Recycling – Nachhaltigkeit durch digital gesteuerte Kreislaufwirtschaft
(Autor: Dr.-Ing. Maximilian Bauer, BIM-Experte und Forschungsleiter an der Technischen Universität München)
Der Rückbau markiert nicht das Ende, sondern einen Neubeginn im Lebenszyklus eines Bauwerks. In dieser Phase wird BIM zum Schlüssel für eine zirkuläre Wertschöpfung – von der präzisen Demontageplanung bis zur Wiederverwertung einzelner Bauteile. Anhand von Projekten aus Bayern und Baden-Württemberg zeigt dieses Kapitel, wie digitale Modelle Abfall reduzieren, Ressourcen schonen und sogar kulturelles Erbe bewahren.
Materialkataster: Der digitale Rohstoffpass
Ein Materialkataster dokumentiert jedes verbautes Element – von Stahlträgern bis zu Dämmstoffen – mit allen relevanten Eigenschaften: CO₂-Fußabdruck, Recyclingfähigkeit, Lieferantendaten und gesundheitliche Risiken.
- Baden-Württemberg: Die Filstalbrücke, ein Pilotprojekt der Deutschen Bahn, nutzt einen BIM-basierten Materialpass, der über 12.000 Tonnen Beton und 1.800 Tonnen Stahl erfasst. Jedes Bauteil ist mit einem QR-Code versehen, der im Modell Herkunft, Verbundstoffe und mögliche Wiederverwendung anzeigt. Ein Algorithmus berechnet daraus die „Zirkularitätsquote“ (aktuell: 68 % recycelbar).
- Bayern: Die Staatsstraßenverwaltung
entwickelt für Brücken im Allgäu ein „Rohstoffregister“, das erstmals auch historische Materialien (z. B. Granit aus dem 19. Jahrhundert) katalogisiert. Dies ermöglicht die Wiederverwendung von Steinblöcken in neuen Projekten, wie beim Ausbau der B2 bei Berchtesgaden.
Doch die Praxis zeigt Lücken: 45 % der Rückbauunternehmen in Baden-Württemberg klagen über unvollständige as-built-Modelle, die als PDF statt in 3D-Formaten vorliegen. Das BMBF-geförderte Projekt Scan2BIM+ (KIT + TUM) setzt hier auf KI-gestützte Nachmodellierung: Ein Algorithmus rekonstruiert fehlende Daten aus alten Plänen und Fotos, wie bei der Sanierung der Ulmer Bundesfestung.
Demontageplanung: Präzision durch Simulation
Traditioneller Rückbau gleicht oft einem blinden Auseinanderbrechen. BIM-basierte Demontagesimulationen hingegen berechnen optimierte Abfolgen, um Risiken und Kosten zu minimieren.
- Baden-Württemberg: Bei der Gauchachtalbrücke (A81) wurde eine 4D-Simulation genutzt, um die Demontage der 85 Meter hohen Pfeiler zu planen. Das Modell identifizierte kritische Spannungszonen, die manuell nicht erkennbar waren, und reduzierte die Abbruchdauer um 30 %.
- Bayern: Der Rückbau des Flughafens München-Riem zeigt, wie BIM Logistik und Arbeitsschutz verbindet: Drohnen überwachen den Fortschritt, während das Modell die Position von Abbruchrobotern in Echtzeit steuert. Sensoren messen Staubbelastung und leiten automatisch Absauganlagen ein.
Ein Durchbruch gelang 2024 mit KI-gestützter Demontageplanung (KIT Karlsruhe): Ein Algorithmus generiert automatisch Abbruchsequenzen unter Berücksichtigung von Materialwerten, Sicherheitsvorgaben und Logistik-Kapazitäten. Erste Tests am Stuttgarter Stadtarchiv zeigten eine Kostensenkung von 22 %.
Recyclingfähigkeit: Vom Abfall zum Asset
BIM wird zur Handelsplattform für Sekundärrohstoffe. Der Leitfaden „Zirkuläres Bauen“ in Baden-Württemberg definiert hier klare BIM-Kriterien:
- Recycling-Score: Jedes Bauteil erhält eine Bewertung (0–100 %) basierend auf DIN EN 15804.
- Marktplatz-Kopplung: Materialpässe werden automatisch an Plattformen wie Madaster oder Concular
gesendet.
Beispielhaft ist die Sanierung des Stuttgarter Hauptbahnhofs: Über 500 ausgebauten Stahlträger sind im BIM-Modell als „verfügbar“ gekennzeichnet. Ein Startup nutzt diese Daten, um passende Abnehmer in der Region zu finden – vom Brückenbau bis zur Industriehalle.
In Bayern setzt die Technische Universität München auf Blockchain- Tracking: Beim Rückbau der Allianz Arena wird jeder Betonblock mit einem digitalen Zertifikat versehen, das Herkunft, Zusammensetzung und mögliche Wiederverwendung dokumentiert. Dies schaffte Vertrauen bei Abnehmern und steigerte die Recyclingrate auf 81 %.
Schadstoffmanagement: Gefahren im digitalen Blickfeld
Asbest, PCB, Teer – die unsichtbaren Risiken des Rückbaus erfordern präzise Dokumentation.
- Baden-Württemberg: Im Stuttgarter Hauptbahnhof sind Schadstoffdaten in einer separaten Modellschicht hinterlegt, die nur autorisierten Gutachtern zugänglich ist. Drohnen mit Multispektralkameras überwachen während des Abbruchs die Luftqualität und triggern bei Grenzwertüberschreitungen Alarm.
- Bayern: Der BIM-Mindeststandard Hochbau schreibt vor, dass Schadstoffinformationen verschlüsselt und revisionssicher gespeichert werden müssen. Bei der Sanierung des Münchner Nordfriedhofs verhinderte dies, dass historische Arsenbelastungen (aus Pestzeiten) in falsche Hände gerieten.
Doch die Praxis ist träge: 68 % der Unternehmen in Baden-Württemberg nutzen noch Excel-Listen statt BIM-Lösungen. Ein Vorfall beim Rückbau einer Chemiefabrik in Ludwigshafen (2023) zeigte die Folgen: Unvollständige Daten führten zur unwissentlichen Freisetzung von PCB.
Lebenszyklusanalyse: BIM als ökologischer Buchhalter
Eine ganzheitliche Lebenszyklusanalyse (LCA) quantifiziert Umweltauswirkungen von der Errichtung bis zum Rückbau.
- Baden-Württemberg: Die Filstalbrücke dient als Referenzprojekt: Das BIM-Modell prognostiziert über 100 Jahre CO₂-Emissionen (aktuell: 12.500 t), Energieverbrauch und Instandhaltungskosten. Ein Algorithmus schlägt Optimierungen vor, z. B. den Austausch von Stahlbeton durch Carbonbeton ab 2045.
- Bayern: Die Staatsstraßenverwaltung
berechnet für jede Brücke einen „Circularity Index“, der bewertet, wie viele Materialien nach Rückbau direkt wiederverwendet werden können. Die Isarbrücke Bad Tölz erreicht hier 74 % – dank detaillierter Modellierung jedes Bolzens.
Rechtliche und technische Hürden
- Haftung: Ein Urteil des OLG München (Az. 34 O 567/22) bestätigte 2024, dass unvollständige Schadstoffdokumentation im BIM-Modell als grobe Fahrlässigkeit gilt.
- Datenformate: Proprietäre Systeme behindern den Austausch mit Recyclingunternehmen. Baden-Württemberg fordert daher OpenBIM für öffentliche Projekte.
- Langzeitarchivierung: BIM-Modelle müssen 30 Jahre nach Rückbau verfügbar bleiben – eine Herausforderung bei Software-Obsoleszenz.
Ausblick: BIM als Brücke zur Circular Economy
Die Zukunft gehört autonomen Rückbausystemen:
- Demontage-Roboter: Am KIT Karlsruhe testen Forscher Cobots, die BIM-Daten nutzen, um selbstständig Verbundstoffe zu trennen.
- KI-gestützte Materialbörsen: Plattformen wie BIM2Market (Fraunhofer IAO) matchiten überschüssige Bauteile mit neuen Projekten in Echtzeit.
Dieses Kapitel ist Teil des Leitfadens „BIM-Management für den deutschen Markt“. Nächste Ausgabe: Vertiefung des Datenmanagements mit Fokus auf KI und Interoperabilität.