Kapitel 4: Die Betriebsphase – Nachhaltiges Leben und Optimierung durch BIM
Die Betriebsphase ist der längste und kostenintensivste Abschnitt im Lebenszyklus eines Bauwerks – und gleichzeitig der, in dem BIM sein volles Potenzial als „lebendes System“ entfaltet. Hier geht es nicht mehr um Planung oder Errichtung, sondern um intelligente Nutzung, präventive Instandhaltung und zirkuläre Wertschöpfung. Anhand von Beispielen aus Bayern und Baden-Württemberg zeigt dieses Kapitel, wie BIM Gebäude in lernende Ökosysteme verwandelt.
Digitaler Zwilling: Das Herzstück des modernen Facility Managements
Ein digitaler Zwilling ist mehr als ein statisches 3D-Modell – er verbindet Echtzeitdaten, Nutzerverhalten und Umweltfaktoren zu einem dynamischen Steuerungstool. In Baden-Württemberg setzt die Filstalbrücke an der Hochgeschwindigkeitsstrecke Wendlingen–Ulm Maßstäbe: Über 200 IoT-Sensoren erfassen strukturelle Belastungen durch Schwerlastverkehr, Temperaturschwankungen und Korrosion. Diese Daten fließen live in das BIM-Modell ein, das daraus Warnungen für Instandhaltungsteams generiert.
In Bayern nutzt die Staatsstraßenverwaltung digitale Zwillinge für Brücken im Allgäu. Das Besondere: Wetterdaten des Deutschen Wetterdienstes (DWD) werden mit statischen Modellparametern verknüpft. So prognostiziert das System Schneelast-Risiken 48 Stunden im Voraus und leitet automatisch Räumfahrzeuge an kritische Punkte – ein Ansatz, der die Ausfallzeiten im Winter 2023 um 35 % reduzierte.
Prädiktive Instandhaltung: Von der Reparatur zur Vorhersage
Die Ära der turnusmäßigen Wartungsintervalle ist vorbei. KI-gestützte Predictive Maintenance analysiert historische und aktuelle Daten, um Probleme zu antizipieren.
- Baden-Württemberg: An der Filstalbrücke werden maschinelle Lernalgorithmen eingesetzt, die anhand von Rissmustern und Vibrationsdaten den Verschleiß der Y-förmigen Stützpfeiler vorhersagen. Das System erreicht eine Trefferquote von 89 % und reduziert ungeplante Stillstände um 22 %.
- Bayern: Die Nürnberger U-Bahn nutzt ein BIM-basiertes System, das Reparaturintervalle für Gleisweichen optimiert. Es kombiniert historische Störungsprotokolle (seit 1972!) mit Echtzeitdaten von Beschleunigungssensoren in den Zügen.
Doch die Technologie stößt an Grenzen: Beim Stuttgarter Rathaus scheiterte die prädiktive Instandhaltung zunächst, weil die Bestandsdaten aus den 1950er-Jahren unvollständig waren. Die Lösung war ein Hybridmodell aus Laserscanning und manueller Nachmodellierung – ein Prozess, der 18 Monate dauerte.
Energiemanagement: Vom Verbraucher zum Prosumer
BIM wird zum Schlüssel für klimaneutrale Gebäude. Im Landesarchiv Stuttgart wird das BIM-Modell genutzt, um Heizungs- und Lüftungsströme zu simulieren. Durch die Kopplung mit Smart-Meter-Daten konnte der CO₂-Ausstoß um 18 % gesenkt werden – ein Erfolg, der auf der präzisen Abbildung von Wärmebrücken im Modell basiert.
In Bayern setzt die Staatsbauverwaltung Oberfranken im Verwaltungsgebäude Bayreuth auf ein dynamisches Energiemanagement: Das BIM-Modell steuert Jalousien und Beleuchtung automatisch basierend auf dem Sonnenstand. Sensoren erfassen zudem die CO₂-Konzentration in Büros und triggern bedarfsgesteuerte Lüftung. Das Ergebnis: 25 % weniger Energieverbrauch bei gleichzeitig verbessertem Komfort.
Datenaktualisierung: Blockchain statt Bauakte
Ein BIM-Modell ist nur so gut wie seine aktuellen Daten. In Baden-Württemberg setzt die Sanierung des Stuttgarter Hauptbahnhofs auf Blockchain-Technologie: Jede Änderung – ob neue Brandschutztür oder verlegte Leitungen – wird als „Block“ mit Zeitstempel und Verantwortlichem dokumentiert. Dies schafft Transparenz über den gesamten Lebenszyklus und reduziert Suchzeiten bei Störungen um 70 %.
In Bayern schreibt der BIM-Mindeststandard Hochbau vor, dass Änderungen innerhalb von 48 Stunden im Modell nachgeführt werden müssen. Die Stadt Augsburg löst dies mit einer mobilen App: Handwerker scannen QR-Codes an Bauteilen, dokumentieren Arbeiten via Sprachaufnahme oder Foto, und eine KI überträgt die Daten automatisch ins BIM-Modell.
Nutzerschnittstellen: Vom Expertenwerkzeug zur Bürgerplattform
Die größte Innovation liegt in der Demokratisierung der BIM-Daten:
- Baden-Württemberg: Das Freiburger Stadttheater bietet Besuchern eine AR-App, die historische Bauphasen (von der Nachkriegsrekonstruktion bis heute) sichtbar macht. Bürger können via App Feedback zur Akustik geben – ein partizipativer Ansatz, der bereits zu drei Umbauentscheidungen führte.
- Bayern: Die Stadt Augsburg nutzt im Rathaus ein BIM-gestütztes Raummanagementsystem. Mitarbeiter buchen Arbeitsplätze per Tablet, während das System Belegungsdaten automatisch an Reinigungsroboter und Catering übermittelt.
Doch die Akzeptanz hinkt hinterher: Eine Umfrage der TU München (2024) zeigt, dass nur 12 % der Mieter in BIM-verwalteten Gebäuden die Dashboards nutzen – oft aus Datenschutzbedenken oder technischen Hürden.
Rechtliche und technische Hürden
Die Betriebsphase offenbart komplexe Herausforderungen:
- Datenschutz: Die DSGVO kollidiert mit Dokumentationspflichten. Bayern entwickelte den OpenBIM-Quality-Checker, der personenbezogene Daten (z. B. Zugangsprotokolle) automatisch anonymisiert.
- Haftungsfragen: Ein Urteil des OLG Stuttgart (Az. 5 U 112/24) bestätigte 2024, dass Betreiber für Sicherheitslücken in BIM-Software haften, wenn Updates ignoriert werden.
- Interoperabilität: Proprietäre Systeme erschweren den langfristigen Betrieb. Baden-Württemberg fordert daher OpenBIM für alle öffentlichen Gebäude ab 2025.
Ausblick: Vom Gebäude zum Ökosystem
Die Zukunft liegt in der Vernetzung:
- Autonome Systeme: Das Klinikum Ulm testet Reinigungsroboter, die via BIM-Daten Hindernisse umfahren und verbrauchte Materialien nachbestellen.
- Zirkuläre Wertschöpfung: Die Plattform Madaster
katalogisiert wiederverwendbare Bauteile der Filstalbrücke – ein erster Schritt zur „BIM-geführten Kreislaufwirtschaft“.
Dieses Kapitel ist Teil des Leitfadens „BIM-Management für den deutschen Markt“. Nächste Ausgabe: Vertiefung des Rückbaus mit Fokus auf Demontagerobotik und Materialpässe. Exklusive Einblicke in laufende Projekte erhalten Sie über unsere Homepage unter: https://aedificiumdigital.com/ de/